Ausgabe 2/2011 – Pflege (immer noch) in Not! Von Jochen Müter, n-tv.deKellner
Dass die Pflege in Deutschland schwer krank ist, wird zunehmend offensichtlicher. Immer mehr Menschen haben Kontakt mit einem System, das überstrapaziert und ausgemergelt ist. Und dem der Nachwuchs ausgeht, weil der Beruf systematisch ruiniert wurde. Wieder droht der „Notstand“ – oder besser: Er wird immer schlimmer.

Einen „Notstand in der Altenpflege“ befürchtet Bernd Meurer. Und der muss es wissen, denn er ist Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste. Rund 3.100 Pflegedienste und über 3.400 stationäre Pflegeeinrichtungen sind der Organisation angeschlossen. Bereits heute fehlen in diesem Bereich tausende Fachkräfte, so Meurer. Diese seien aber nicht in Sicht. Meurer forderte die Bundesregierung auf, rasch zu handeln. Auch die angekündigte Pflegereform dürfe „nicht noch einmal aufgeschoben werden“.

Die Pflege ist also in Not. Und die zu Pflegenden mit ihr. Weiß das jemand noch nicht? Ist das neu? Nein, es ist nicht neu. Es ist nur so: Die Pflege ist traditionell gut auszubeuten. Die Menschen, die dort arbeiten, haben ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Pflegende arbeiten mit Menschen, die rund um die Uhr Hilfe brauchen – da kann man nicht mal eben den Lokführer machen und mit einem Streik alles lahmlegen. Und: Alten- oder Krankenpflege sind immer noch Frauenberufe. Dazu kommt: Für eine Gesellschaft, die nur noch in Win-Win-Situationen denkt, ist die Pflege einfach zu teuer – sie bringt nichts ein, sie kostet nur. Alt und krank werden, das passt nicht in unser Leben.
Eine Abfrage bei der Jobsuche der Arbeitsagentur für Arbeit zeigt: Bundesweit sind dort 22.498 offene Stellen im Dienst an Pflegebedürftigen gemeldet. Die Erfahrung lehrt, dass diese Agentur-Zahl verdoppelt werden kann: macht fast 50.000 offene Stellen.
Viele mobile Pflegedienste und manches Altenheim haben schließlich schon aufgegeben zu inserieren. Dazu kommt: Kliniken, so hört man, haben nach Jahren des Stellenabbaus noch nicht wieder angefangen, Mitarbeiter zu suchen – aus Kostengründen. Man wartet bis zur letzten Sekunde, bis die überarbeiteten Pflegekräfte die Verantwortung endgültig ablehnen. Und wie viele illegal beschäftigte Kräfte aus Osteuropa eigentlich reguläre Stellen be-setzen weiß wohl niemand so genau. Ihre Zahl dürfte fünfstellig sein. Das Statistische Bundesamt jedenfalls geht davon aus, dass 2025, also in 14 Jahren, mehr als 150.000 Pflege-Profis fehlen.

Das Problem inzwischen: Neue Mitarbeiter gibt es nicht mehr. Der Markt ist leergefegt. Warum? Zum einen, weil die Branche „boomt“, wie es so schön heißt. Tausende Pflegedienste sind in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die demographische Entwicklung und der Druck auf die Kliniken, Patienten so schnell wie möglich wieder loszuwerden, treiben ihnen die Kundschaft in die Arme. Zum anderen: Die beiden Ausbildungsberufe „Altenpfleger“ und „Krankenpfleger“ sind im vergangenen Jahrzehnt quasi systematisch ruiniert worden. Nichts Ernsthaftes wurde getan, um dem Image des „Urin-Kellners“ oder „Hintern-Abwischers“ entgegenzutreten. Ja, zum Berufsbild gehört die Körperpflege der Kranken und Alten. Aber eben auch: Umgang mit lebenserhaltender High-Tech, mit teuren und hochwirksamen Medikamenten, mit Extremsituationen und sich sorgenden Angehörigen.

Eine Pflegekraft ist ein bischen Arzt, ein bisschen Seelsorger, ein bisschen Manager, ein bisschen Bestatter, ein bisschen Koch, ein bisschen Sportler, ein bisschen Hygieneexperte, ein bisschen Apotheker, ein bisschen … kurz: eine Allround-Fachkraft mit anspruchsvoller, lernintensiver Ausbildung!

Das hätte nicht nur die Politik, das hätten auch Kirchen und private Träger besser würdigen müssen – und zwar an mehreren Stellen.

Stelle 1: Bei den Löhnen. 2.252 Euro brutto im Westen und 1.886 Euro im Osten bringt eine staatlich geprüfte Pflegefachkraft nach Hause. Ja, mancher Friseur (ca. 1.500 Euro brutto) ist da neidisch. Aber: Wenn die Frisur nach dem Schnitt nicht sitzt, wachsen die Haare nach. Wenn der Patient die falsche Infusion bekommt, ist er am Ende womöglich tot. Und noch ein Vergleich zum Nachdenken: Ein Fleischer verdient 2.449 Euro im Monat, ein Schaffner 2.305 Euro – beides über dem Lohn einer Pflegefachkraft.

Stelle 2: In der Ausbildung. Die Komplexität der Lehre hat vor allem die Krankenpflegeschulen in den 90er-Jahren dazu gebracht, in Sachen Nachwuchs auf Abiturienten zu setzen. Real- und Hauptschülern wurde der Weg in den Beruf zunehmend unmöglich. Heute rächt sich das.
Der Beruf ist bei Abiturienten unten durch, das Image des Jobs bei den anderen Schülern so schlecht, dass er sie nicht mehr interessiert. Dazu kommt: Die Anzahl der Ausbildungsplätze ist über Jahre massiv zusammengestrichen worden. Die Warnung vor einem Kräftemangel allein aus diesem Grund gibt es auch schon Jahre.

Stelle 3: Bei der Arbeitsmarktpolitik. Die Alten- und Krankenpflege wurde im Zuge der Liberalisierung des Arbeitsmarktes dem Leiharbeitssektor überlassen. Die meisten offenen Stellen bieten Unternehmen aus der „Arbeitnehmerüberlassung“ an. Und das bedeutet: Der Beruf, der eh schon ein hohes Maß an Flexibilität verlangt (Stichwort: Schicht- und Wochenendarbeit), wird zunehmend im Milieu prekärer Beschäftigung verortet. Das spüren auch die, die sich eventuell für die Aufgabe interessieren – und winken lieber ab.

Zu Kontakt gezwungen
Klar ist: Der Handlungsbedarf nimmt zu. Immer mehr Deutsche sind selbst betroffen oder kennen einen der 2,34 Millionen Pflegebedürftigen. Und haben damit erstmals Kontakt zu einem überstrapazierten, kranken System. Die Politik, die hier Wähler-Potenzial erkennt, nimmt sich langsam, aber sicher des Themas an. Ein Wandel muss her, das ist diversen Entscheidern längst klar. Der Berufsstand, die Ausbildung muss aufgewertet, die Löhne müssen erhöht werden. Der Zug der wilden Privatisierungen muss aufgehalten werden, denn Qualität muss bei der Arbeit mit Menschen vor ökonomischen Interessen stehen. Und so abgedroschen es klingt: Dieser Prozess könnte extrem beschleunigt werden, wenn jeder sich ernsthaft klar macht, wie schnell es geht, dass er selbst einen „Hintern-Abwischer“ braucht.

Jochen Müter ist Politik-Redakteur
bei der Nachrichtenseite n-tv.de, Berlin. http://www.n-tv.de/politik/Wer-braucht-einen-Urin-Kellner-article3956966.html